Lebenslinien

Sylvia Ertelt nimmt ihr Leben selbst in die Hand
– trotz einer schweren Erkrankung.
Eine Mutmacher-Geschichte.

Auf den ersten Blick ist Sylvia Ertelt eine sportliche, lebenslustige Frau, die mitten im Leben steht. Mit ihren 63 Jahren geht sie viel und gerne wandern und legt mit ihrem E-Mountainbike auch mal gerne 80 bis 90 Kilometer am Tag zurück. Doch wer genauer hinsieht, erkennt, dass Sylvia Ertelt eine schwere Krankengeschichte hinter sich hat: Am Hals hat sie ein Tracheostoma, eine Öffnung der Luftröhre nach außen, in die eine Kanüle eingeführt ist, über die Sylvia Ertelt atmen kann. „Ich habe mich nach meiner niederschmetternden Diagnose für das Leben entschieden“, erzählt sie und lächelt. „Denn mein Leben ist mir wichtig. Diese Krankheit darf mit mir leben, aber ich lebe nicht nach ihr.“

Aber der Reihe nach: Ein bösartiger Tumor hatte vor ungefähr zwei Jahren erst ihre Stimmbänder und dann auch ihren Kehlkopf befallen. „Ich hatte die Wahl, den Kehlkopf noch teilweise zu erhalten – dann aber mit der größeren Gefahr, dass der Krebs wiederkommt. Also habe ich mich für die Komplettentfernung entschieden.“Eine Entscheidung mit vielen Folgen: Sylvia Ertelt kann nicht mehr durch Mund und Nase, sondern nur noch durch das künstliche Loch in ihrer Luftröhre atmen.

4- bis 5-mal am Tag muss sie die Trachealkanüle von Absonderungen reinigen, um nicht zu ersticken. Husten ist für sie kaum möglich. Sie kann nicht riechen, nur ganz wenig schmecken und zunächst auch nicht sprechen. „Ich musste mein ganzes Leben umstellen und habe dafür auch ganz viel Unterstützung gebraucht.“ Wichtig waren dabei vor allem ihr Mann, ihre Enkeltochter und die Mediziner und Therapeuten im Prosper-Hospital. „Ohne die Hilfe eines Oberarztes aus der HNO-Abteilung und des ganzen Teams hätte ich schnell den Mut verloren. Auch mein Mann hat mir ganz oft ‚in den Hintern‘ getreten.“ Soziale Kontakte haben die schwere Zeit leider nur wenige überdauert – das hat Sylvia Ertelt lange beschäftigt. „Mittlerweile habe ich aber viele tolle Menschen getroffen, die ich ohne meine Geschichte wahrscheinlich niemals kennengelernt hätte.“

Sylvia Ertelt

"Lebensmut nicht zu verlieren und weiterzumachen.
Aber es lohnt sich!"


Direkt nach den beiden großen Operationen im Jahr 2021 gab es immer wieder Rückschläge. Nach der ersten Operation bekam sie eine Lungenembolie. Nach der zweiten Operation bildete sich eine Fistel an der Speiseröhre, so dass sie lange Zeit nur über eine Sonde ernährt werden konnte. „Man muss wirklich Grenzen überwinden, um den Lebensmut nicht zu verlieren und weiterzumachen. Aber es lohnt sich“,sagt sie zufrieden. Schon drei Monate nach der Kehlkopfentfernung begann sie in der Logopädie des Prosper-Hospitals eine spezielle Rülpstechnik zu trainieren, mit der sie heute kommunizieren kann. „Ich habe quasi gelernt, mit der Luft zu sprechen. Das bereitet mir manchmal im wahrsten Sinne des Wortes Bauchschmerzen durch die viele Luft, die ich einatme. Das Verstandenwerden öffnet mir aber seitdem so viele Tore. Ich habe sogar wieder einen kleinen Job angenommen.“

Dennoch bleibt vieles anders als vorher. Schwimmengehen und duschen, zwei Dinge, die sie so geliebt hat, sind nicht mehr wie gewohnt möglich. „Es darf kein Wasser in das Tracheostoma kommen.“ Im Notfall kann sie auch nicht laut um Hilfe rufen, „so wie damals kurz nach der Operation, als ich im Fahrstuhl stecken geblieben bin.“ Auch einen Notruf am Telefon abzusetzen ist kaum möglich: „Wenn ich aufgeregt bin, kann ich nicht mehr sprechen. Weil mein Mann herzkrank ist, hat er eine Sprachnachricht auf mein Handy aufgenommen, die ich dann abspielen kann.“ Essengehen macht ihr nur noch wenig Freude.
„Meine Speiseröhre ist viel schmaler als normalerweise, so dass ich kauen, kauen, kauen muss. Am Ende ist mein Essen kalt. Einmal habe ich mich in einem Biergarten verschluckt und konnte das Stück nicht herausbekommen. Da habe ich einen Handstand an der Wand gemacht ...“

Diese kleinen Geschichten zeigen, wie Sylvia Ertelt ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Ganz nach dem Motto: Bange machen gilt nicht. Und die vielen, vielen Einschränkungen sieht sie als Herausforderung an. „Es gibt auch einen Vorteil: Ich schnarche nicht mehr“, lacht sie. „Mein Mann sagt immer, er hört mich gar nicht mehr. Na ja, aber das ist eigentlich auch der einzige Vorteil.“ Aber sie lebt und das ist für sie das, was zählt.

Anderen Betroffenen oder schwer kranken Menschen und ihren Angehörigen möchte sie gerne etwas mit auf den Weg geben: „Die kranken Menschen können häufig mehr, als sie selbst denken. Sie brauchen kein Mitleid, sondern Menschen, die Mut machen, Dinge wieder neu zu denken und auszuprobieren. Ganz wichtig sind auch Selbsthilfegruppen und das Sprechen über seine Ängste und Sorgen. Seitdem ich das verstanden habe, geht es mir viel besser.“